Integrierte Arbeitsgruppe "Paradigmen, Haltung und Beziehung in Psychiatrie und Psychotherapie"
Die IAG beschäftigt sich mit den konzeptuellen Grundlagen psychiatrischen und psychotherapeutischen Handelns und verfolgt dabei einen ebenso theoretischen wie empirischen Ansatz.
Einen Forschungsschwerpunkt stellt die Vielfalt von Haltungen und Beziehungen dar, die die Psychiatrie aus praktischer Perspektive prägen. Einen ebenso zentralen Fokus bilden die Wechselwirkungen zwischen Psychiatrie und Gesellschaft, etwa, indem Psychiatrie vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen begriffen wird.
Die Arbeitsgemeinschaft bedient sich überwiegend geisteswissenschaftlicher Methodik wie Begriffsarbeit und textkritischer Interpretation, führt aber ebenso klinische und sozialwissenschaftliche Studien durch. Hierbei wird vor allem auf die qualitative Sozialforschung zurückgegriffen. Mit ihren Arbeiten möchte sie eine sachgerechte, aber auch kritische Auseinandersetzung mit den historischen und gesellschaftspolitischen Voraussetzungen des Fachgebietes Psychiatrie und Psychotherapie fördern.
Aktuelle Studien und Projekte
Menschen machen Erfahrungen immer in einem sozialen Rahmen. Nicht nur finden Erfahrungen meist in sozialen Beziehungen statt, sie werden auch wesentlich durch den institutionellen Kontext mitbestimmt, in dem sie gemacht werden. Damit steht die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen und sich mit anderen Menschen darüber auszutauschen, in Beziehung zu sozialer Freiheit sowie Unfreiheit. Restriktive soziale Felder machen sich etwa daran bemerkbar, dass sie den Raum möglicher Erfahrung sowie ihrer Artikulation systematisch einschränken. Umgekehrt realisiert sich soziale Freiheit in der zwanglosen Möglichkeit zu einer Vielfalt von Erfahrungen und ihrer Kommunikation. Im Feld psychiatrischer und psychotherapeutischer Praxis werden Freiheit und Unfreiheit zumeist im Kontext psychischer Krankheit und krankheitsbedingter Einschränkungen des individuellen Funktionsniveaus und Verhaltens verhandelt. Demgegenüber mahnen kritische Stimmen an, Entstehungsmomente von Freiheit oder Unfreiheit innerhalb psychiatrischer sowie gesellschaftlicher Institutionen zu verorten. Trotz weitreichender institutioneller Reformen ist eine kritische Reflexion der Zusammenhänge zwischen sozialer (Un)Freiheit und Erfahrungsräumen bisher nicht geschehen.
Vor diesem Hintergrund zielt das Projekt „Erfahrung und soziale Freiheit“ erstens darauf, das Verhältnis der beiden Begriffe genauer zu bestimmen. Dafür wird ein belastbarer Theorierahmen geschaffen und ein Konzept der Wechselseitigkeit von Erfahrung und sozialer Freiheit ausgearbeitet. Zentral ist hierbei die Annahme, dass sowohl Erfahrung als auch Freiheit stets in einem sozial-historischen Kontext situiert sind, der sie erst in ihrer jeweiligen Gestalt möglich macht. Das Verhältnis der beiden Begriffe soll zweitens so ausgearbeitet werden, dass es in der Lage ist, die Spannungen und Konflikte um Erfahrung und Zwang im Feld der Psychiatrie aufzugreifen. Mit Blick auf die in den letzten Jahrzehnten wieder bedeutsam gewordenen Versuche, die Grundlagen der Psy-Disziplinen, -Praktiken und -Institutionen im Rahmen der Geisteswissenschaften auszuarbeiten, bilden vor allem antipsychiatrische und psychiatriekritische Zugänge einen zentralen Bezugspunkt des Forschungsprojekts.
Das Projekt orientiert sich grundsätzlich an sozialpsychiatrischen und dialektischen Traditionen, wie insbesondere der Kritischen Theorie, (leib) phänomenologischer Perspektiven, und der philosophischen Anthropologie als theoretischen Grundlagen.
Ansprechpartner:innen sind Almuth-Maria Schmidt, Giacomo Croci und Frank Schumann. Die Projektleitung erfolgt durch Martin Heinze (MHB) und Dirk Quadflieg (Universität Leipzig).
Personen mit rechtsradikalen und rechtsextremen Orientierungen nutzen die stationären Versorgungseinrichtungen genauso wie andere Personen. Allerdings geht die Arbeit mit rechtsextremen Personen mit verschiedenen Herausforderungen einher: So können offen geäußerte Überzeugungen zu Konflikten mit Personal und anderen Patient*innen führen, besonders dann, wenn diese bereits von Diskriminierung im Zusammenhang mit rechten Orientierungen betroffen waren. Auch unabhängig davon stehen rechtsradikale Orientierungen im Widerspruch zu grundlegenden Prinzipien ärztlichen und psychotherapeutischen Arbeitens, wie etwa Gleichbehandlung unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung. Obwohl diese Konflikte Belastungen für das Personal darstellen und auch zu Spannungen in Arbeitsteams führen können, wurde den Herausforderungen im Umgang mit Rechtsextremismus an Krankenhäusern und Psychiatrien bisher jedoch nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Vor diesem Hintergrund verfolgt das Forschungsprojekt drei Ziele. Erstens soll untersucht werden, wie verbreitet Konflikte im Zusammenhang mit Rechtsextremismus an Kliniken in Brandenburg sind und in welcher Form sie üblicherweise auftreten. Zweitens soll rekonstruiert werden, welche konkreten Herausforderungen sich daraus für Personal ergeben und ob bzw. welche Formen des Umgangs etabliert sind. Drittens sollen außerdem im Rahmen des Projekts Weiterbildungsangebote partizipativ entwickelt werden, die zur Professionalisierung des Umgangs beitragen. Darüber hinaus beschäftigt sich das Projekt kritisch mit gängigen Zugängen zum Thema Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus in Psychiatrie und Psychotherapie.
Das Projekt wird durch die interne Forschungsförderung der MHB gefördert (2022-2024). Ansprechpartner sind Peter Brook und Frank Schumann.
Seit 2013 besteht gem. § 64b SGB V die Möglichkeit der Implementierung innovativer psychiatrischer Versorgungskonzepte, durch die mittels sektorenübergreifender Behandlungsansätze eine flexiblere und an den individuellen Bedarf angepasste Versorgung psychisch Erkrankter erfolgen kann. Im Rahmen von Modellprojekten nachweislich effektive und effiziente Behandlungsformen wie z.B. die stationsäquivalente Behandlung („Home-Treatment“) konnten mittlerweile auch in die Regelversorgung erfolgreich übernommen werden. Andere modellspezifische Komponenten, wie z.B. Behandlerkontinuität, settingsübergreifende Gruppenangebote oder der systemische Einbezug von Bezugspersonen, erscheinen ebenfalls vielversprechend für eine systematische Implementierung in die Regelversorgung, da sie ein effektives therapeutisches Mittel für die Entwicklung einer besseren Krankheitseinsicht bieten können. Studien zur Auswirkung dieser Aspekte auf die Krankheitseinsicht sind jedoch bisher nicht durchgeführt worden. Ebenso wenig finden sich entsprechende, auf die Modellversorgung übertragbare Ergebnisse aus der Regelversorgung. Diese Lücke soll mit diesem Projekt geschlossen werden.
Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Philosophie und Psychopathologie in Wolfgang Blankenburgs Briefwechseln - Mit dem bisher uneditierten Briefwechsel von Wolfgang Blankenburg mit Personen seines anthropologisch-psychiatrischen Netzwerks steht der IAG eine wertvolle Quelle zur Verfügung, den historischen Kontext seines Werkes in Auseinandersetzung sowohl mit zeitgenössischen Entwicklungen der psychopathologischen Forschung als auch mit phänomenologisch geprägter Philosophie zu rekonstruieren. Neben der historischen Rekonstruktion und der Edition ausgewählter Briefe können an das Textkonvolut auch systematische Fragestellungen zum Verhältnis von philosophischen Konzeptionen einerseits, psychiatrischer Erfahrung andererseits angelegt werden.
Kooperationspartner ist diesem Projekt ist Ute Blankenburg. Ansprechpartner für das Projekt bei der MHB ist Giacomo Croci.
SelfRecovery (Self in Recovery: eine phänomenologische Perspektive auf Schizophrenie) ist ein von der ANR (Agence Nationale de la Recherche) und der DFG (Deutsche Forschungsgemenischaft) finanziertes Forschungsprojekt (ANR-22-FRAL-0008; DFG Projektnummer 510763842). Wir untersuchen, wie die gelebte Erfahrung von Menschen, die sich in der Genesung von einer schizophrenen Krise/Erkrankung befinden, beschrieben werden kann. Dabei stützen wir uns auf qualitative Forschungsansätze und die phänomenologische Philosophie. Unser Ziel ist es, zu beschreiben, wie es ist, in Genesung zu sein.
Wir konzentrieren uns dabei auf die Erfahrungen, die mit dem Selbstsein im weitesten Sinne zusammenhängen und von denen man annimmt, dass sie bei Schizophrenie-Spektrum-Störungen verändert sind. Wie kann die Kontinuität des Selbst wiedergewonnen werden, wenn sie brüchig geworden zu sein scheint? Wie tragen Narrative zur Rekonstruktion einer Identität in der Genesung bei? Welche Erfahrungsdimensionen sind für das Gefühl, eine Person zu sein, relevant? Dies sind einige der Fragen, die wir aus philosophischer und klinischer Sicht behandeln.