"Unser Leben ist verletzlich!“
Neuruppin/Brandenburg an der Havel, 31. Mai 2021
Prof. Edmund Neugebauer und Prof. Markus Deckert gehen in einem gemeinsamen Gastbeitrag für die Märkische Allgemeine Zeitung der Frage nach, wie die Corona-Pandemie die Gesellschaft verändert hat. Zum besseren Krisenmanagement und zur Politikberatung regen sie die Gründung einer Pandemie-Taskforce an.
Die Pandemie hat uns gezeigt, wie verletzlich unsere Zivilisation ist und wie radikal wir als Gesellschaft Herausforderungen meistern können. Sie hat uns aber auch gezeigt, was wir daraus lernen müssen. Hunger und Gewalt, Unfälle und Krankheiten haben durch alle Generationen unser Leben bedroht. Wir wissen, dass wir sterben werden, aber heute haben wir das Risiko, es unerwartet zu tun, erheblich reduziert und unsere Lebensspanne weit verlängert. Selbst mit einer Brustkrebsdiagnose hat eine Fünfzigjährige heute eine höhere Lebenserwartung als ihre gesunde Vorfahrin vor 300 Jahren.
Dieser Gewinn fußt auf Wohlstand, wissenschaftlichem Fortschritt und Solidarität. Wir haben uns daran so sehr gewöhnt, dass wir fundamentale Bedrohungen kaum mehr für möglich halten. Es liegt in unserer Natur, aktuelle Bedrohungen höher zu bewerten als künftige, selbst wenn die künftigen viel größer sind: Auch wenn wir seit vier Jahrzehnten die ökologische Krise und den Klimawandel erkennen, achten wir in unseren Entscheidungen, persönlich wie politisch, mehr auf die heutige Bequemlichkeit als auf die morgigen Lebensgrundlagen.
Trügerische Sicherheit
Die Corona-Pandemie zeigt uns, wie trügerisch die gefühlte Sicherheit ist. Über Nacht hat sich unser Leben in einer Weise verändert, die noch im Herbst 2019 kaum als schlecht gelaunte Science Fiction durchgegangen wäre.
Dabei ist dieses Virus nur mäßig unfreundlich: Es hat uns erlaubt, den allergrößten Teil unseres bisherigen Lebens fortzuführen, es hat den meisten nur die Glanzlichter ihrer Tage genommen: Treffen mit Freunden und Verwandten, Kulturleben, Reisen. Und das zu einer Zeit, in der wir Vieles kompensieren konnten durch Videochats, virtuelle Kulturveranstaltungen, die überraschende Natur vor unserer Haustür. Und dennoch hat dieses Virus uns mit ungewohnter Eindeutigkeit gezeigt: Unser Leben und das, was wir darin kostbar finden, ist alles andere als selbstverständlich. Es ist verletzlich.
Solidarität in die Zukunft tragen
Geht es um unsere großen Zukunftsaufgaben, ist oft von den begrenzten Möglichkeiten der Politik die Rede: Die Menschen kaufen nun einmal gerne Billigfleisch in Plastik und fahren Autos in Übergröße. Aber die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie radikal Politik handeln kann, wenn es nötig ist. Und ein Zweites hat sie gezeigt: wie gering die befürchteten wirtschaftlichen Schäden sind: um 4,3 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt in der Pandemie gesunken, auf das Niveau von 2017. Wo Wachstum das Maß ist, ist das viel – aber ein Zusammenbruch sieht anders aus. In der Finanzmarktkrise 2008 waren es 7,0 Prozent.
Wenn wir dies aufbringen konnten, um die Ausbreitung eines Virus aufzuhalten, wenn wir unsere Wohlstandsmaschine zu über 95 Prozent am Laufen halten konnten, obwohl wir zuhause hockten – wie viel mehr muss uns dann erst möglich sein, wenn es um unsere Zukunft geht! Wovor sollten wir da noch Angst haben? Doch wohl nur vor einem: dass wir unsere wirkliche Aufgabe nicht packen. Und die ist nicht, dass alles wieder wird wie vor der Pandemie. Unsere Aufgabe ist vielmehr, die Solidarität, die unsere Zivilisation stark macht, in die Zukunft zu tragen.
Dazu werden wir als erstes Wunden versorgen müssen. Diejenigen, deren Leben am meisten beschnitten wurde, brauchen jetzt Unterstützung: Menschen, deren berufliche Existenz durch die Maschen der Hilfsprogramme gefallen ist, vor allem aber Kinder und Jugendliche, denen wichtige erste Male, wichtige Erfahrungen der Entwicklung genommen wurden.
Was können wir daraus lernen?
Wir werden die Institutionen stärken müssen, die Solidarität tragen. Gesundheitssystem und Bildungssystem kommen uns als erstes in den Sinn. Dabei geht es nicht primär um mehr Geld, sondern darum, dass es denen nützt, für die das System da ist, und denen, die Sorge für andere tragen. Ärzt*innen und Pflegende wurden während der Pandemie ebenso wie Patient*innen häufig allein gelassen. Die medizinische Versorgung, aber insbesondere auch die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen, zentral abgestimmten Informationen, die den Menschen auch die durch die Politik ergriffenen Maßnahmen erklärt und nachvollziehbarer erscheinen lässt, muss zukünftig viel besser werden. Akzeptieren kann man in unserer offenen Gesellschaft nur, was man versteht.
Klimaschutz ist Gesundheitsschutz
Ein Weg aus der Pandemie (oder anderen, zukünftig etwa durch den Klimawandel bedingten Krisen) liegt kurzfristig in der Einrichtung einer möglichst interdisziplinär zusammengesetzten Pandemie-Taskforce, die mittelfristig in ein Nationales Institut für Gesundheit überführt werden sollte. Im Falle einer neuen globalen Krise führt es die Fäden zusammen, stellt tragfähige und transparente Entscheidungsgrundlagen für die politisch Verantwortlichen bereit und stimmt die öffentliche Kommunikation ab.
Jenseits der Pandemie und globaler geht es jetzt vor allem darum, in kurzer Zeit unser Land neu zu gestalten, so, dass es nicht länger die Klimakrise verschärft und die Schöpfung nicht als Rohmaterial, sondern als eigenen Wert achtet. Nur dann sind wir solidarisch mit unseren Kindern und Enkeln. Das ist weder Ideologie noch Zauberwerk, sondern reale Notwendigkeit. Alles, was dafür getan werden muss, ist bekannt. Und es kostet wenig. Vor allem kostet es viel weniger, als es nicht zu tun.
Denn damit schließt sich der Kreis: SARS-CoV2 wird nicht das letzte Virus gewesen sein, das von Tieren auf Menschen übergeht. Je weniger natürliche Lebensräume wir zerstören, umso seltener werden solche Pandemien sein.
(Prof. Edmund Neugebauer ist Präsident der MHB, Prof. Markus Deckert ist hier Dekan der Fakultät für Medizin und Psychologie. Der Beitrag ist am 31.05.2021 in der Märkischen Allgemeinen Zeitung erschienen.)