„Kein Mensch flieht freiwillig!“
Neuruppin, 22.06.2017
Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans frontières) besuchte am gestrigen Mittwoch die Medizinische Hochschule Brandenburg. Im Großen Festsaal der Ruppiner Kliniken hielt er den öffentlichen Vortrag „Globale Flüchtlingsbewegungen – Was sind 2017 die Herausforderungen?“, zu dem neben den Studierenden auch die Mitarbeiter der MHB und der Ruppiner Kliniken sowie alle interessierten Bürger eingeladen waren. „Ab heute wird Neuruppin für mich immer unvergesslich bleiben“, begrüßte Tankred Stöbe die anwesenden Gäste. Bislang sei er auf der Strecke zwischen Berlin und Hamburg immer nur an Neuruppin vorbei gefahren. Seinen Vortrag, den er hauptsächlich seinem aktuellen Hilfsprojekt in Libyen widmete, leitete er mit zwei markanten Sätzen ein, die ihm häufig in den Berichterstattungen der Medien begegneten: 1. „In Afrika sitzen hunderttausende Flüchtlinge auf gepackten Koffern und warten auf ihre Überfahrt nach Europa.“ 2. „Wir können doch nicht alle Flüchtlinge hier aufnehmen.“
Anhand von persönlich erlebten Geschichten und Schicksalen sprach Stöbe mit Blick auf die Situation vieler Flüchtenden von einem großen medizinischen und politischen Versagen. Auch wenn Flüchtlinge nicht nur eine europäische, sondern insgesamt eine globale Herausforderung darstellen, sei die Lage der Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa flüchten würden, eine besonders dramatische. „Laut Schätzungen, die eher zu niedrig als zu hoch sind, starben von den 7.495 Menschen, die 2016 weltweit auf der Flucht starben, allein 5.079 im Mittelmeer“, sagte Stöbe. Statistisch erfasst würden dabei nur die Toten, die später aus dem Wasser gefischt oder an die Küste gespült werden oder von denen Augenzeugen berichteten. In diesem Jahr sind es nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bislang über 1.800, im Durchschnitt elf pro Tag. Stöbe machte aber auch deutlich, dass sich über 80% der weltweit Flüchtenden in den benachbarten Ländern aufhielten und so lange wie möglich versuchen würden, in der Nähe der Heimatregion zu bleiben.
Eine zentrale Bedeutung kommt in der aktuellen Flüchtlingskrise dem Transitland Libyen zu, wo sich sowohl Migranten als auch Flüchtende aufhalten. Während erstere in Libyen bleiben und früher oder später wieder in ihre Heimatländer zurückkehren wollen, suchen letztere nach Möglichkeiten, über das Mittelmeer nach Italien und Europa zu flüchten. „Die Flüchtlingslager in Libyen sind unzumutbar. Wer vor Krieg, Verfolgung, Folter und extremer Armut flieht um in ein sicheres Land zu gelangen, hat kaum noch eine Chance, Europa zu erreichen. Kein Mensch flieht freiwillig! Dabei liegen die zehn Länder, die weltweit die meisten Flüchtenden aufnehmen, allesamt außerhalb Europas. Wer die Wüstendurchquerung überlebt, wer Folter und Vergewaltigung in Libyen übersteht, wer in den Gefangenenlagern nicht verhungert oder aufgrund der fehlenden sanitären Anlagen schwer erkrankt, für den ist die Mittelmeerfahrt oft der letzte Ausweg, auch wenn unser Kontinent die Türen verschließt. Die Festung Europa scheint nur noch einen politischen Konsens zu finden: Flüchtende fernzuhalten“, so Stöbe weiter.
Damit das Mittelmeer nicht länger ein Massengrab für Flüchtende bleibt, stellten Ärzte ohne Grenzen bereits seit Mai 2015 drei Rettungsschiffe bereit, die Schiffbrüchige vor der Küste Libyens retten sollten. Den in jüngster Vergangenheit erhobenen Vorwurf, Ärzte ohne Grenzen und andere Hilfsorganisationen machten sich damit zu Handlangern und zu einer Art erweitertem Taxiservice für Schlepperbanden, weist Stöbe als zynisch und unbegründet zurück: „Wie an vielen traurigen Beispielen immer wieder zu sehen ist, interessieren sich die Schlepper gar nicht für das Schicksal der flüchtenden Menschen. Es ist ihnen völlig egal, ob die Flüchtenden ihr Ziel erreichen oder aber auf dem Weg dahin sterben“, sagte Stöbe.
Bisher haben Ärzte ohne Grenzen über 65.000 schiffbrüchige Menschen versorgen können, täglich erhöht sich diese Zahl. Die politisch im europäischen Konsens formulierten Ziele, Fluchtursachen zu beheben und Schlepperbanden zu bekämpfen, würden von den Regierungen jedoch nicht konsequent genug verfolgt: „Die Verantwortung liegt bei den staatlichen Akteuren, diese Verantwortung wird aber oft genug nicht wahrgenommen. Oberstes Ziel sollte sein, Leben zu retten und das Leid der Flüchtenden zu lindern. Hierzu gehören auch die Einrichtung legaler und sicherer Flucht- und Migrationswege sowie die Etablierung eines solidarischen europäischen Verteilungssystems. Europa muss die unsichtbaren Mauern, die es um sich herum errichtet hat, abbauen und endlich mehr tun, um die humanitäre Krise der Flüchtlingsbewegungen zu bewältigen“, schloss Stöbe.
Bereits vor seinem öffentlichen Vortrag gab Tankred Stöbe für Medizinstudierende des 1. Semesters eine Lehrveranstaltung zum Thema „Vom Medizinstudium zum Auslandseinsatz: wie werde ich humanitärer Arzt?“ Ziel der Lehrveranstaltung war es, zunächst das Grundverständnis humanitärer Hilfe zu klären und zu erörtern, nach welchen Prinzipien sie funktioniert. Darüber hinaus ging es insbesondere um die Beantwortung der Fragen, wie ein Einsatz im Krisengebiet konkret aussieht, welche Voraussetzungen nötig sind und wie ich als Arzt mit fremden Kulturen und einer oft unter einfachsten Bedingungen zu praktizierenden Medizin umgehe und was es bedeutet, in unsicheren Ländern fern von Heimat und Familie zu arbeiten.
„Durch seine langjährige Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen kann Tankred Stöbe authentische Eindrücke schildern und vielschichtige Hintergrundinformationen zur aktuellen medizinischen und politischen Lage der Menschen geben, die von Krieg, Zerstörung und Verfolgung bedroht sind. Am Beispiel von unterschiedlichen Einsätzen mit der Organisation Ärzte ohne Grenzen wurde anschaulich und erfahrbar, wie humanitäre Hilfe ganz praktisch vor Ort umgesetzt werden kann. Da in den vergangenen Jahren Studierende und Mitarbeiter sowohl der MHB als auch der Ruppiner Kliniken in unmittelbaren Kontakt mit geflüchteten Menschen gekommen sind und auch weiterhin kommen werden, sind solche Veranstaltungen mit einem Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der betroffenen Krisenregionen für uns in vielerlei Hinsicht spannend und hilfreich. Wir freuen uns auf jeden Fall sehr, dass wir Tankred Stöbe für diese beiden Veranstaltungen hier in Neuruppin gewinnen konnten“, sagte Juri Habicht, Medizinstudent an der MHB und Mitorganisator der Veranstaltungen.
Tankred Stöbe studierte Medizin an den Universitäten in Greifswald und Witten. Bei Ärzten ohne Grenzen ist er seit mehr als fünfzehn Jahren aktiv und engagiert. Neben seiner klinischen Tätigkeit als Internist und Notfallmediziner ist er dort von 2007 bis 2015 als Präsident der deutschen Sektion tätig. Im Juni 2015 wird er auf der internationalen Vollversammlung von Médecins sans frontières in Barcelona in das höchste Entscheidungsgremium der Organisation, den Internationalen Vorstand, gewählt. Seit vielen Jahren leistet er in zahlreichen Katastrophen-, Krisen- und Konfliktgebieten vor allem in Asien und Afrika humanitäre Hilfe und riskiert dabei nicht selten sein eigenes Leben. 2016 wird er als herausragender „Arzt ohne Grenzen“ mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet, die vom Präsidium des Deutschen Ärztetages regelmäßig verliehen wird und die heute als höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft gilt.