"Sie gehören zu denen, die einen Unterschied machen können!"
Neuruppin, 01. April 2020
Liebe Studierende, und ganz besonders: liebe Erstsemester,
im Namen der ganzen Fakultät begrüße ich Sie herzlich!
An der MHB sind wir daran gewöhnt, Neues zu machen und das, was wir schon machen, immer wieder neu zu denken. Vor nicht allzu langer Zeit war es ja überhaupt das ganz Neue, dass wir hier Erstsemester der Medizin und der Psychologie zu begrüßen hatten. Und wer dabei war, weiß: ja, wir wissen uns mit Ihnen zu freuen und zu feiern!
Das Neue dieses Mal ist, dass wir genau das nicht tun können. Besonders schmerzt es natürlich, die Erstsemester nicht wie sonst begrüßen zu können, mit einer großen Feier in der Kulturkirche in Neuruppin und einer anschließenden Party bis in die Nacht hinein…
Zwar hoffen wir, das in naher Zukunft irgendwie nachholen zu können, aber es wird nicht dasselbe sein: Statt mit dem neuen Lebensabschnitt und dem neuen Fach neue Menschen kennenzulernen und in eine neue Gemeinschaft hineinzuwachsen, starten Sie jetzt eher eine Art Fernstudium, weit weg und unpersönlich, das Gegenteil von dem, was die MHB sein will.
Geistig und atmosphärisch näher rücken
Und doch versuchen wir gerade dabei, uns in dem zu bewähren, was uns nach unserem Selbstverständnis ausmacht: Auf neue Weise zu reagieren, didaktisch neue Wege zu gehen, aus der dezentralen Struktur unserer Universität aufs Neue eine Stärke zu machen. Und darin rücken viele von uns geistig und atmosphärisch viel näher zusammen, obwohl wir uns physisch seit Wochen nicht mehr begegnet sind.
Wir werden unser Möglichstes tun, Ihnen während der Zeit ohne Präsenzlehre so viel aus dem Curriculum auf andere Weise zu bieten, wie möglich. Wir werden dazu verschiedene virtuelle und elektronische Formate nutzen und Ihnen damit nach Kräften die Teilnahme auch dann ermöglichen, wenn Sie sich nicht alle gleichzeitig einer Videokonferenz zuschalten können. Aber für Diskussionen und Gruppenarbeiten werden wir digitale Präsenzformate wie Live-Chat und Videokonferenz nutzen.
Wir alle erleben eine historisch bisher nicht dagewesene Situation, die unmittelbar das angeht, was Sie studieren: eine Pandemie, die sich in kürzester Zeit über den ganzen Erdball ausbreitet und schnell die Gesundheitssysteme überlasten kann, und die damit verbundene kollektive psychische Belastung: unter beiden Perspektiven ein Ausnahmezustand von ungekanntem Ausmaß.
"Naturkatastrophe in Zeitlupe"
Heute wissen wir noch nicht, wie lange dieser Ausnahmezustand dauern wird. Dass nach den Osterferien alles wieder auf normal gestellt wird, erscheint jedoch unwahrscheinlich. Eher auf Monate hinaus werden wir mit dieser - um Christian Drosten zu zitieren - „Naturkatastrophe in Zeitlupe“ leben: Beim Blick aus dem Fenster, beim Zusammensein in Familie oder Wohngemeinschaft erscheint das meiste wie immer, die Welt da draußen ist noch ganz – und doch ganz anders als sonst. Wir erleben anders, wir handeln anders, und fast leere Straßen sind inzwischen das gewohnte Bild. Eine unsichtbare Bedrohung ist da, die die meisten von uns nicht mehr bedroht als eine schwere Erkältung, und die doch dazu führt, dass weltweit Intensivstationen überlastet sind und Menschen sterben, weil für sie kein Beatmungsgerät mehr verfügbar ist.
Dieser Ausnahmezustand verändert unser Leben, unsere Gesellschaft. Offensichtlich jetzt ganz akut, aber sehr wahrscheinlich auch lange darüber hinaus. Wie viele werden sterben, bevor die Pandemie abebbt? Wird sie wieder verschwinden, wird sie lästig aber harmlos werden, oder werden wir uns auf lange Sicht im Alltag auf sie einstellen müssen? Wann wird sich die Wirtschaft erholen – schon bald nach Ende der aktuellen Welle, oder erst in vielen Jahren? Wann werden wir unser gewohntes offenes, freies Leben wieder aufnehmen, wieder auf Partys, in Konzerte und Ausstellungen, Cafés, Freibäder und Biergärten gehen, verreisen können? Werden wir die Verwandten und Freunde, die wir jetzt nicht besuchen können, wiedersehen? Fragen, die uns in einigen Monaten vielleicht übertrieben – oder aber vermessen vorkommen können.
Krisen zeigen uns, wer wir wirklich sind
Aber von der Antwort darauf wird auch abhängen, wie sich unsere Gesellschaft verändert. Werden diejenigen, die uns schnelle und einfache Lösungen vorlügen wollen, allmählich zum Schweigen gebracht, weil nur die Wahrheit Probleme wirklich lösen hilft? Oder werden sie weiter an Boden gewinnen, weil unsere Welt jetzt noch komplizierter und die Sehnsucht nach einfachen Antworten noch größer geworden ist?
Lernen wir in dieser Krise Solidarität mit den Schwächsten, indem auch diejenigen zuhause bleiben, die meinen, von CoVID-19 nichts zu befürchten zu haben? Oder zieht die räumliche Distanzierung einen neuen Schub an gesellschaftlicher Distanzierung nach sich? Zeigt uns der wirtschaftliche Stillstand, wie gut unser Leben auch ohne Hyperkonsum und Wachstumsbeschleunigung ist, eröffnet er uns Handlungsmöglichkeiten für einen Weg aus der Klimakrise? Oder werden wir in wenigen Monaten alles mit umso mehr Verbrauch kompensieren und Ökologie wieder für nett, aber unwichtig halten?
Krisen zeigen uns, wer wir wirklich sind. Das Wort kommt vom Griechischen κριτειν – unterscheiden. Folgen wir unseren Instinkten und horten Klopapier, weil die Nachbarin es auch tut? Oder folgen wir unserem Gewissen, wie Li Wenliang, der Augenarzt in Wuhan, der als einer der ersten die neue Infektionskrankheit erkannt und benannt hat und dafür zuerst mit Maßregelungen durch die kommunistische Regierung und schließlich mit dem Tod an genau dieser Krankheit bezahlt hat?
Stehen wir ein für das, was wir für richtig halten, auch wenn das unbequem ist? Oder gehen wir den leichten, den bequemen Weg? Und wie, bitte, unterscheiden wir stets das eine vom anderen? Ist es richtig, bei jeder Gelegenheit in der Öffentlichkeit einen Mund-Nase-Schutz zu tragen, um sich und andere zu schützen? Oder ist es richtig, gerade das nicht zu tun, um die knappen Vorräte denjenigen zu lassen, die sie wirklich brauchen? Ist es richtig, in der Sicherheit des eigenen Zuhauses zu bleiben, um nicht zur Ansteckungsgefahr zu werden? Oder ist es richtig, gerade dorthin zu gehen, wo Hilfe gebraucht wird, wenn ich sie leisten kann?
Sie gehören zu denen, die einen Unterschied machen können!
Jeden Tag kann die Antwort eine andere sein. Und die Empfehlungen von Fachleuten und Regierungen sind wertvoll. Aber wenn es um Gewissensentscheidungen geht, sind wir immer auf uns selbst gestellt. Wie alle Zeiten sucht auch unsere ihre Helden. Die Heldinnen und Helden unserer Zeit sind nicht solche spektakulärer Einzeltaten. Sie sind solche des Gewissens.
Dies ist eine gute Gelegenheit, nicht nur an Helden wie Li Wenliang zu denken, sondern an die vielen Heldinnen und Helden des Alltags, die in diesen Tagen ihrem Gewissen folgen. Unabhängig davon, ob man ihnen abends von den Fenstern ansonsten leerer Straßen Beifall klatscht. Wer hätte gedacht, dass Menschen in Berufen, die am unteren Ende der Lohnskala stehen, dass Kassierer*innen und Lieferfahrer*innen plötzlich zu Heldinnen und Helden des Alltags werden?
Mir scheint, viele von Ihnen verfügen über einen guten Kompass für diese Fragen. Mehr als einhundertfünfzig von unseren Studierenden haben sich noch vor Semesterbeginn, aus den Ferien heraus als freiwillige Helfer und Helferinnen zur Verfügung gestellt. Dafür danke ich Ihnen, und nicht nur in meinem Namen!
Von uns allen wird es abhängen, wie die Welt diese Krise überstehen und wie sie danach aussehen, wie sie sich entwickeln wird. Gegenwärtig haben sich die meisten Regierungen entschieden, dem Schutz des Lebens Vorrang vor Wohlstand und Wirtschaftswachstum zu geben, und diese Entscheidung erscheint den meisten von uns selbstverständlich und moralisch richtig.
Von unser aller Entscheidungen wird abhängen, ob dies so bleibt, ob wir diese Krise integer überwinden, ob wir danach weiter eine Gesellschaft sein werden, die den Schutz des Lebens, den Schutz der Schwächsten unter uns, den Schutz der Lebensgrundlagen an erste Stelle setzt. Und ob sie dies so global tut, wie diese Pandemie global ist.
Und so ist dieser Semesterbeginn, und für die Erstsemester unter Ihnen: der Beginn Ihres Studiums ganz anders als erwartet und gewohnt. Aber mir scheint, es ist dieses Mal nicht weniger, sondern mehr noch als sonst ein ganz besonderer Moment. In dieser Krise gehören Sie zu denen, die einen Unterschied machen können. Treffen Sie in diesen Tagen die richtigen Entscheidungen! Achten Sie auf sich und die Menschen in Ihrer Umgebung!
Und noch einmal, obwohl wir uns so schnell nicht persönlich begegnen: Seien Sie herzlich willkommen!
Ihr
P. Markus Deckert
Dekan der Fakultät für Medizin und Psychologie