Ärztin der MHB im Hilfseinsatz für Kinder in Afghanistan
Neuruppin, 19.01.2022
Jenny Becker gehörte zum ersten Jahrgang der Medizinstudierenden der MHB. Warum sie sich trotz der Taliban nach Afghanistan gewagt hat. Ein Gastbeitrag von Siegmar Trenkler, MOZ.
Jenny Becker war unter den ersten Medizinstudierenden der Medizinischen Hochschule Brandenburg (MHB) in Neuruppin. Im Sommer 2021 hat sie ihre Approbation erhalten. Nur wenige Monate darauf begleitete sie einen Hilfseinsatz nach Afghanistan, das zu dem Zeitpunkt längst von den Taliban übernommen worden war. Trotzdem hat die dreifache Mutter, die mittlerweile in Lindow arbeitet, dieses Risiko auf sich genommen.
„Es ist nicht so, dass ich mir dachte, es gebe eine 50/50-Chance, dass wir abgeschossen werden“, erklärt die 42-Jährige. Nicht zuletzt der Gedanke an ihre eigenen Kinder hätte sie in solch einem Fall von dem Unterfangen abgehalten. „Ich habe an der MHB studiert, um Landärztin zu werden, aber auch, um humanitäre Projekte ehrenamtlich medizinisch unterstützen zu können.“
Friedens- und Konfliktforscherin
Und die Ärztin hatte vor ihrem Medizinstudium als Friedens- und Konfliktforscherin gearbeitet. „Ich war im NGO-Bereich aktiv“, berichtet sie. Aufgrund der Erfahrungen aus dieser Zeit war sie überzeugt, dass die Gefahr für den Hilfseinsatz nicht so groß war, wie ihn andere vermuteten. „Es war einfach nicht davon auszugehen, dass die Taliban oder sogar der IS uns mit einer Rakete abschießen“, erklärt sie. Und gerade weil sie Mutter von drei Kindern ist, habe sie nicht Nein sagen können.
Bei dem Einsatz der Nichtregierungsorganisation „Friedensdorf International“, den die Ärztin begleitet hatte, wurden 27 verwundete Kinder zwischen drei und zwölf Jahren aus Kabul abgeholt. Sie sollten ursprünglich schon bei einer früheren Mission im August nach Deutschland gebracht werden. Wegen des Abzug der westlichen Truppen und der Machtübernahme durch die Taliban hatten sie jedoch seinerzeit das Land nicht mehr verlassen können.
„Sie sind teilweise durch ganz Afghanistan nach Kabul gekommen, mit dem Moped, dem Esel oder zu Fuß“, so Becker. Zum Teil mit ihren Eltern, zum Teil aber auch ohne hatten die Kinder seitdem gewartet. „Sie waren unterernährt, starrten vor Dreck, und ihr gesundheitlicher Zustand hatte sich teilweise stark verschlechtert“, erinnert sich die Ärztin. „Manche waren auch traumatisiert, und sollten dann mit Fremden mitkommen und sich das erste Mal in ihrem Leben in ein Flugzeug setzen.“
Schwierige Vorbereitung
Ein solches Flugzeug überhaupt erst einmal zu finden, sei für die Organisation sehr schwierig gewesen, berichtet Jenny Becker. Weil der Tower in Kabul nicht mehr besetzt war, wollte niemand den Flughafen anfliegen. Zwei ehemalige russische Militärpiloten, die sich zutrauten, überall eine Maschine landen und hoch bringen zu können, erklärten sich schließlich bereit. „Es waren Vater und Sohn, die selber Kinder haben und von der Mission überzeugt sind“, so Becker. Mit einer Maschine, die extra gechartert wurde, konnte das Team aus Deutschland, zu dem die Ärztin gehörte, schließlich aufbrechen. „Es war die erste europäische Mission in Kabul seit der Machtergreifung der Taliban“, erinnert sie sich.
Behandlung in Deutschland
Die Zeit für die Kinder drängte: Denn die Knochenentzündung, an der manche leiden, kann zu einer Blutvergiftung oder zum Tod führen. „Andere Kinder hatten Verbrennungen, ein Junge hatte eine nach außen verlagerte Harnblase“, beschreibt sie. Bei manchen hätten ältere Brandwunden auch dafür gesorgt, dass die Kinder Augen oder Mund nicht mehr richtig schließen konnten.
All das sind Probleme, die in Deutschland relativ einfach operativ beseitigt werden können, unter den vorhandenen Bedingungen in Afghanistan aber nicht behandelbar sind. Das ist auch ein Kriterium, nach dem der Rote Halbmond, die afghanische Partnerorganisation des Friedensdorfs, vor Ort die Kinder aussucht. „Friedensdorf International“ kümmert sich dann um die Behandlung der Kinder in Deutschland. Danach kommen sie zurück in ihr Heimatland.
Erstversorgung im Flugzeug
Aus dem Flugzeug durften die Deutschen in Kabul nicht aussteigen. Während des Flugs nach Düsseldorf hat sich Jenny Becker dann um die Erstversorgung gekümmert. Dabei suchte sie auch diejenigen Kinder aus, die in Deutschland sofort weiter behandelt werden müssen. Ungeachtet aller Herausforderungen würde sie sich sofort wieder zu so einem Hilfseinsatz entscheiden, wenn sie die Zeit dafür hätte, sagt die Ärztin.
Doch ihre Vollzeitstelle an der Salusklinik in Lindow, wo sie derzeit ihre Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin macht, sowie drei Kinder zu Hause lassen ihr dafür keine Zeit. Das Schicksal der jungen Patient*innen, die sie mit aus Kabul geholt hat, interessiert sie aber schon. „Vielleicht schaffe ich es mal, nach Oberhausen zu kommen“, überlegt Jenny Becker. Dort befindet sich das Friedensdorf, in dem die Kinder untergebracht sind. Sehr wahrscheinlich sei das aber nicht. Und ohnehin seien Besuche bei den Kindern nicht geplant. Durch den Kontakt zu „Friedensdorf International“ könne sie aber auch so auf dem Laufenden bleiben. Und sie weiß auch, dass die Kinder jetzt in guten Händen sind.