Interdisziplinäres Symposium der Fakultät für Medizin und Psychologie
Wege zu einer besseren Gesundheitsversorgung der alternden Bevölkerung
Brandenburg an der Havel, 24. Oktober 2025
Die Bedeutung von „Deeskalation im Kontext einer patient*innenzentrierten Gesundheitsversorgung“ stand als ein Forschungsschwerpunkt der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane (MHB) im Fokus des „Kick-off-Symposiums“ der Fakultät für Medizin und Psychologie am 10. Oktober 2025 in Brandenburg an der Havel.
Vor zahlreichen Forschenden und Gästen eröffneten Dekanin Prof. Dr. Christine Holmberg, Kanzler Dr. Gerrit Fleige und Prof. Dr. Konrad Schmidt vom Institut für Allgemeinmedizin die Veranstaltung. Holmberg erläuterte in ihrem Grußwort die Relevanz des Themas für die Forschung an der MHB: „Deeskalation“ meint die gezielte Reduzierung oder Vermeidung unnötiger medizinischer Maßnahmen – mit dem Ziel, eine qualitativ hochwertige, sichere und effiziente Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten und gleichzeitig Über- wie Unterversorgung zu vermeiden.
Die Moderation des Symposiums übernahm Prof. Dr. Konrad Schmidt, welcher auch initiativ die externen Vortragenden, Prof. Dr. John Brandt Brodersen von der Universität Kopenhagen sowie Frau Prof. Dr. Verena Vogt vom Universitätsklinikum Jena, nach Brandenburg eingeladen hatte.
Den Auftakt bildete der Vortrag von Prof. Brodersen mit dem Titel „Overdiagnosis – a driver of too much medicine“: 30 Prozent unserer medizinischen Leistungen seien unnötig, weitere 10 Prozent sogar schädlich – so seine provokative Eingangsthese. Am Beispiel der Absenkung diagnostischer Grenzwerte - etwa beim Bluthochdruck - erläuterte er das Phänomen des sogenannten „disease mongering“ – einer Tendenz, Normvarianten ohne Krankheitswert als behandlungsbedürftige Diagnosen zu deuten. Dies vergrößere die Anzahl von „Patient*innen“ und damit den Markt für medizinische Produkte und Dienstleistungen. Folge sei eine häufige Überversorgung wie bei Screening-Programmen für das maligne Melanom oder das Prostata-Karzinom in der Allgemeinbevölkerung. Hier fehle klar die Evidenz für eine Senkung von Morbidität oder Mortalität - stattdessen werden sogar gesundheitliche Schäden in Kauf genommen. Als die zugrunde liegende ökonomische und kulturelle Dynamik identifizierte Brodersen die sogenannte „Health Culture“ - die Maximierung medizinischer Maßnahmen trotz letztlich 100-prozentiger Mortalität - ein „postmodernes Paradoxon“. Der Vortrag mündete in eine lebhafte Diskussion, in der Prof. Brodersen spontan mithilfe eines Flipcharts verschiedene Erklärungsansätze visualisierte.
Stärker auf die deutsche Versorgungsrealität bezog sich der Vortrag von Prof. Dr. Verena Vogt, Mitglied der neuen „Finanzkommission Gesundheit“ des Bundesgesundheitsministeriums. Auf Basis von Routinedaten der Krankenkassen quantifizierte sie deutschlandweit erschreckend häufig medizinische Leistungen mit fragwürdigem Nutzen – wie unnötige Laborwerte oder die Gabe von Benzodiazepinen. Dieses „unbequeme“ Forschungsthema sei notwendig – schließlich wendet Deutschland europaweit die höchsten Gesundheitsausgaben auf, ohne sich in der Lebenserwartung von anderen EU-Ländern zu unterscheiden. Die Definition von Über- aber auch Unterversorgung bedarf einer differenzierten Untersuchung von Indikatoren und Versorgungsbedingungen, um auf vielen Ebenen bessere Steuerungsanreize setzen zu können. Auch dem Vortrag von Frau Prof. Vogt folgte eine rege Diskussion, die in der Kaffeepause mit einem Austausch auch über die MHB-Projekte einer Posterausstellung weitergeführt wurde.
Im zweiten Teil des Symposiums präsentierten Wissenschaftler der MHB eigene Ansätze und Projekte: Prof. Dr. Oliver Zolk vom Institut für Klinische Pharmakologie in Rüdersdorf beschrieb das Phänomen der Multimedikation sowie Chancen und Hürden des „deprescribing“ - eines systematischen Absetzens unnötiger Medikamente. Prof. Dr. Michael Hauptmann vom Institut für Biometrie und Registerforschung in Neuruppin stellte „Deeskalation“ als Strategie der Krebsforschung vor, um onkologische Therapien auch individuell nach einer Balance von Nutzen und Schaden bewerten und auswählen zu können.
Im Anschluss wurden die Vorträge und die weitere Implementierung des Themas an der MHB in einem kleinen Kreis von Teilnehmenden diskutiert. Eine aus dem Symposium heraus erweiterte Arbeitsgruppe wird diese Arbeit nun kontinuierlich fortsetzen und sich zu relevanten Förderungen von MHB-Forschungsprojekten im Rahmen der Versorgungsforschung einbringen. Einen weiterführenden Austausch zum Thema Deeskalation soll es auch in der nächsten Sitzung des Fakultätsrates am 20. November 2025 geben. Alle am Thema Interessierten sind jederzeit willkommen, sich einzubringen und können sich aktuell direkt beim Dezernat für Wissenschaft und Forschung melden.