Forschungsbereich Nerven/Psyche
„Ich habe gemerkt, dass es für mich eine Grenze gibt“
Psychotherapeut:innen sollten neutral sein. Was aber, wenn Patient:innen menschenverachtende Dinge sagen? Ein Gespräch mit Samuel Thoma, Psychotherapeut und Psychiater am Zentrum für seelische Gesundheit an der Immanuel-Klinik Rüdersdorf, Universitätsklinikum der Medizinischen Hochschule Brandenburg, über seine Erfahrungen mit rechtsextremen Patient:innen und seine Sicht auf Politik im Klinikalltag.
Herr Thoma, Sie arbeiten in einer Klinik in Brandenburg. Welche Rolle spielt Politik bei Ihrer Arbeit?
Viele unterschiedliche Rollen. In den vergangenen Monaten haben meine Kolleg:innen und ich beobachtet, dass sich die soziale Not verschärft. Die Leute kommen immer häufiger mit einfachen Fragen in die Therapiestunden: Wie kann ich meine Gasrechnung bezahlen? Wie viel Geld habe ich noch, um mir Essen zu kaufen? Muss ich vielleicht zur Tafel gehen?
Inwiefern ist das politisch?
Das sind sozialpolitische Fragen. Ich frage mich manchmal, wie weit wir Therapeut:innen den Ernst dieser Fragen überhaupt begreifen. Wir Therapeut:innen gehören dem bürgerlichen Spektrum an, wir sind finanziell abgesichert. Natürlich ärgere ich mich auch über höhere Gasrechnungen. Aber damit muss ich mir noch keine Gedanken machen, ob ich das Busticket bezahlen kann, um in die Therapiestunde zu kommen. Bei solchen Themen ist häufig Scham dabei. Deswegen spreche ich sie insbesondere dann an, wenn sie nicht von selbst thematisiert werden, und die Leute sind meistens erleichtert, darüber zu sprechen.
Sie haben 2019 in einem Text geschrieben: Sie behandeln Lebenskrisen, nicht das gesellschaftliche System. Aber ist nicht das gesellschaftliche System schuld an den sozialen Fragen, die Ihre Patient:innen stellen?
Der Punkt ist: Ich bleibe bei der Psychotherapie immer beim Individuum. Letztlich ist es dann ja immer ein Wechselspiel von konkretem Individuum und sozialem Kontext. Wenn wir zum Beispiel sagen würden, der beschleunigte Kapitalismus führt zu mehr Burnout und deswegen zu der Depression von diesem Menschen direkt vor mir, dann ist das zu abstrakt gedacht. Die Person vor mir ist irgendwo geboren und aufgewachsen, hatte diese oder jene Familie, diese oder jene Ausbildung, verschiedene Arbeitsstellen und hat diese und jene Erfahrungen gemacht. Die Frage, welche Regierung wir haben oder in welchem Wirtschaftssystem wir leben, kommt erst sehr, sehr spät oder nur indirekt zur Geltung. Klar strukturiert das Wirtschaftssystem die konkrete Lebenswelt mit. Nur wenn man gleich dahin springt und sich das anschaut und sagt, „der böse Kapitalismus“ oder „die böse Ampelkoalition“, dann erreicht man nichts.
Was können Sie als Therapeut bei solchen Sorgen überhaupt machen?
Mir ist es sehr wichtig, an der konkreten Situation zu arbeiten. Ich frage: „Sie haben vielleicht das Gefühl, dem ausgeliefert zu sein, aber was können Sie jetzt konkret tun?“ Dazu gehört dann mehr, als nur Medikamente zu verschreiben oder die Kindheit aufzuarbeiten. Dazu gehören eben auch die Fragen: Was kann ich konkret machen in meiner jetzigen Lebenssituation? Mit wem kann ich darüber sprechen? Mit wem kann ich mich zusammenschließen, um mich nicht mehr so ausgeliefert zu fühlen? Das kann auch mal bedeuten, Menschen zu raten, sich politisch zu engagieren.
Was aber machen Sie, wenn die zu therapierende Angst zum Beispiel nicht von Rassismus zu trennen ist?
In solchen Momenten versuche ich sehr nah an den Erfahrungen dran zu sein. Wenn zum Beispiel gesagt wird, „die Syrer“ oder „die Afghanen“, und die Gruppen als Kollektive gesehen werden, versuche ich zu verstehen, was den Patient:innen tatsächlich passiert ist. Ich bleibe bei der Erfahrung und rekonstruiere erst im Nachhinein, woher die Generalisierung kommt. Meistens ist die Generalisierung eigentlich nur ein Verarbeitungs- oder ein Abwehrprozess.
Also lassen Sie rassistische Aussagen erst mal stehen?
Wenn ich gleich sage: „Moment mal, das ist jetzt aber rassistisch“, würde ich das Politische in einer Form in die Therapie mit reinnehmen, mit der ich die therapeutische Arbeit kaputtmache. Wenn eine Patientin gerade von einer Misshandlung spricht und sagt, das sei „ja ein Flüchtling“ gewesen, bringe ich nicht sofortmeine eigene antirassistische Haltung zur Geltung. Das Leid steht erst mal im Vordergrund. In einem nächsten Schritt gebe ich zu bedenken, dass aus dieser Erfahrung ja überhaupt nicht abgeleitet werden kann, dass gerade Geflüchtete Kinder oder Frauen misshandeln und dass das auch widerlegt ist.
Wie reagieren Sie auf Kritik an der Regierung?
Auf die Kritik kann man sich häufig einigen. Wir Therapeut:innen wollen ja immer alles verstehen. Aber daran schließen sich manchmal spezielle Andeutungen an.
Was für Andeutungen?
Zum Beispiel: „Ob das überhaupt ein Virus ist, das wissen wir ja gar nicht.“ Ich bin ja nicht nur Psychotherapeut, sondern auch Arzt. In solchen Situationen sage ich: „Ich verschreibe Ihnen Medikamente, aber wenn Sie der Wissenschaft nicht glauben, dann müssten Sie eigentlich auch glauben, dass diese Medikamente nicht wirken.“ Darauf habe ich bis jetzt noch keine schlagfertige Antwort gehört.
Ist das Ihre Strategie bei schwierigen Aussagen: Schlagfertigkeit?
Das musste ich erst lernen. 2019 hatte ich eine Patientin, die mich an meine Grenze gebracht hat. Durch sie habe ich erst angefangen, mich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen.
Was ist da passiert?
Die Patientin war Mitglied der AfD und ist regelmäßig mit Thor Steinar-Kleidung in die Klinik gekommen. Immer wieder hat sie angefangen, von „Flüchtlingen“ und „der Flüchtlingswelle“ zu reden oder davon, dass „Deutschsein“ nicht mehr erlaubt sei. Beim gemeinsamen Singen hat sie sich die Nationalhymne gewünscht. Sie hat mich und meine Kolleg:innen an unsere Grenzen gebracht. Die Therapiestunden sind immer wieder in politische Diskussionen abgedriftet.
Wie haben Sie reagiert?
Ich war überfordert, habe aber trotzdem versucht, im Gespräch zu bleiben. Ich habe ihr widersprochen, wenn sie wieder krude Theorien rausgehauen hat. Irgendwann ging es aber einfach nicht mehr. Ich habe gemerkt, dass es für mich eine Grenze gibt: nämlich dann, wenn eine Person den therapeutischen Rahmen für Politarbeit nutzt. Und das hat sie getan. Sie hat jede Gruppentherapie und Raucherpause genutzt, um die anderen zu überzeugen.
Glauben Sie, dass Sie bei linken Parolen auch so allergisch reagiert hätten?
Entweder jemand kommt in den therapeutischen Kontext, weil er oder sie Hilfe braucht. Oder jemand möchte Politarbeit machen. Vielleicht würde ich bei linken Parolen nicht ganz so schnell reagieren, trotzdem sollte eine Therapie nicht für politische Arbeit genutzt werden. Der entscheidende Unterschied ist aber auch, dass rechte Ideologie menschenverachtend ist
Also können Sie nur Menschen therapieren, die Ihnen sympathisch sind?
Nein, natürlich nicht. Und natürlich kann und will ich auch mit Patient:innen arbeiten, die beim Wahlomat nicht dasselbe Ergebnis haben. Aber es gibt selbstverständlich bestimmte Sympathien, und eben auch politische Sympathien, die man mit einem Gegenüber hat. Ich denke, das kennt jede:r Therapeut:in.
War die Patientin 2019 ein Extremfall?
Bei der Patientin kam tatsächlich alles zusammen. Aber ähnliche Auseinandersetzungen gab es seither schon immer wieder. Erst war die Fluchtbewegung 2015/16 ein großes Thema, dann Corona, jetzt die Ukraine-Krise. Es sind unterschiedliche Themen, aber immer wieder dieselben Strategien. Strategien aus rechten und verschwörungstheoretischen Diskurswelten. Die politischen Gefühle, die sie mobilisieren, sind sehr intensiv. Umso wichtiger ist es, als Therapeut zu erkennen: Wo wird der therapeutische Rahmen für bestimmte politische Strategien oder Programme genutzt?
Ist Ihr Anspruch, sich so neutral wie möglich zu verhalten und sich nur, wenn es sein muss, als Mensch einzubringen? Oder bringen Sie sich auch bewusst politisch ein, damit Sie greifbarer werden für Ihr Gegenüber?
Ich wollte gerade Ihren Satz fortführen: so neutral wie möglich und politisch wie nötig. Aber die Frage ist: Wann hält man es für politisch nötig? Ich frage erst einmal nach, ob ich etwas richtig verstanden habe, und entscheide dann, ob ich eine Äußerung übergehe oder darauf eingehe.
Was machen Sie seit dem Vorfall 2019 anders?
Ich bin selbstbewusster geworden, auch mal zu sagen: „Moment mal, hier kommt es zu einer Auflösung von therapeutischen Zielen.“ Wenn politische Themen im therapeutischen Gespräch aufkommen, spreche ich sie an und äußere meine eigene Haltung. Vor allem mit Betonung meiner eigenen Erfahrungen. Dann versuche ich, wieder in die therapeutische Beziehung zu gehen. Wenn das Gegenüber weiterhin nur auf einer politischen Agenda beharrt, sage ich mittlerweile schneller: „Wir kommen hier nicht weiter.“
Wann haben Sie eine Situation erfolgreich durch das Teilen Ihrer Erfahrungen gelöst?
Zum Thema Corona habe ich zum Beispiel schon gesagt: „Was Sie jetzt gerade sagen, das gibt mir schon zu denken und macht mich traurig, weil das ja bedeuten würde, dass die Menschen bei uns auf der Intensivstation für Sie nicht gelitten haben und nicht wirklich gestorben sind.“ Dadurch kann ich wieder eine Verbindung zum Gegenüber herstellen. Ich möchte das Gegenüber nicht von meiner politischen Haltung überzeugen, aber ich möchte zeigen, welche Gefühle bei mir ausgelöst werden. Meine Erfahrung ist, dass es sich nicht lohnt, mit einer politischen Autorität in die Gespräche zu gehen. Es bringt aber auch nichts, in therapeutischen Gesprächen absolut politisch abstinent zu sein. Man sollte den politischen Gefühlen Raum geben und sich dann schließlich wieder fragen: Worum soll es hier therapeutisch gehen?
Wurde Politik als Faktor in der Psychotherapie also zu lange ignoriert?
Ich möchte nicht missverstanden werden: Therapeut:innen sollten jetzt nicht zu Stammtischkämpfer:innen werden. Aber ja: Wir müssen uns mehr mit dem Thema auseinandersetzen. Psychiatrische Kliniken sind die Schmelztiegel der Gesellschaft, trotzdem wird der politische Raum in der Psychotherapie-Ausbildung meiner Erfahrung nach ausgeklammert. Wir werden nicht auf politische Debatten in den Therapiestunden vorbereitet. Es gibt dieses Bild von einem sehr abstinenten Therapeuten, einem, der sich allein auf die Biografie und die inneren Zustände der Patientin fokussiert und selbst politisch komplett neutral ist – als ob er selbst kein politisches Wesen ist.
Sollte das Neutralitätsgebot vergessen werden?
Es ist für die Patient:innen und für den Therapieverlauf wichtig, dass sie das Gegenüber nicht nur als eine neutrale, anonyme Hülle wahrnehmen, sondern eben auch als Mensch aus Fleisch und Blut – und eben auch mit politischen Gefühlen.
Den politischen Gefühlen Raum geben klingt ja erst mal toll. Was aber, wenn die Rollen vertauscht würden? Der Patient links und die Therapeutin rechts wäre?
Auch dann würde ich mir wünschen, dass die Therapeutin sich auch an bestimmten Punkten in ihren Überzeugungen zu erkennen gibt. Aber wenn man Ihre Frage weiterdenkt, klingt es so, als ließe sich rechts beziehungsweise rechtsradikal und links beziehungsweise linksradikal beliebig vertauschen. Dann wäre doch die Neutralität ein schöner Kompromiss. Aber dieser Kompromiss ist eine Illusion. Ich bin ein politisches Wesen und kann nicht neutral sein. Als Therapeut muss ich mich irgendwann positionieren. Ich plädiere für eine Positionierung gerade gegen rechtsextreme und menschenverachtende Gesinnungen, weil ich der Meinung bin, dass diese nicht nur den therapeutischen Raum gefährden, sondern vor allem auch unsere Gesellschaft, in der sich dieser Raum befindet. Eine vermeintlich neutrale Nichtpositionierung ist hier auch schon eine Aussage: Sie lässt diese Gefahr zu.
Das Gespräch führte Lea Schönborn.
Zur Person:
Samuel Thoma, Dr. med. und Dr. phil., Jahrgang 1985, ist Psychiater in Ausbildung am Zentrum für seelische Gesundheit der Immanuel-Klinik Rüdersdorf, Universitätsklinikum der Medizinischen Hochschule Brandenburg, und Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift Sozialpsychiatrische Informationen. Er forscht zu den philosophischen Grundlagen der sozialen Psychiatrie.
Quelle: Berliner Zeitung, Donnerstag, 29. Dezember 2022, Seite 2
www.berliner-zeitung.de